Der Zerfall

Wie durch ein Wunder hatte ich den Atomschlag überlebt. Zur Zeit der Explosion war ich gerade auf einer Tour gewesen, um die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu besichtigen, darunter auch ein altes Kloster auf einem Hügel, der ein schönes Panorama bot – zumindest bis zum Einschlag der Bombe im Stadtzentrum. Die Entfernung vom Zentrum und die dicken Steinmauern hatten mich vor den unmittelbaren Auswirkungen der zerstörerischen Hitze- und Druckwelle geschützt, doch die Gefahr durch die radioaktiven Partikel war damit nicht gebannt.
Ausser mir weilte lediglich ein Priester im Gebäude. Nach dem ersten Schock fanden wir irgendwie zueinander; der Geistliche bot mir an, gemeinsam in die Krypta zu gehen. Bis zu diesem Zeitpunkt erschien er mir wie ein vernünftiger Mann. Doch als wir uns zwischen die Steinsärge setzten und ich nach meinem Handy tastete, um meine Verwandten zu kontaktieren oder wenigstens eine Nachricht der Regierung zu lesen, warf er mir einen tadelnden Blick zu.
«Das nützt jetzt auch nichts mehr», sagte er kopfschüttelnd.
«Warum nicht?», fragte ich verständnislos. Zeitgleich musste ich feststellen, dass ich das Handy im Hotelzimmer vergessen hatte.
«Schauen Sie sich um. Keine Technik der Welt hilft gegen den irdischen Zerfall.» Er wies auf die Sarkophage.
«Das ist mir klar, aber haben Sie kein Radio?», wollte ich wissen.
«Wozu? Was wollen Sie erfahren?»
«Ob irgendjemand da draussen noch lebt, zum Beispiel.»
«Das werden wir früh genug wissen, wenn die Gläubigen in die Kirche strömen», erwiderte er überzeugt.
«Jetzt noch denken Sie an Ihren Profit?», fragte ich kritisch.
«Im Gegenteil. Auch Sie beherberge ich hier gratis.»
Ich lachte auf. «Meinen Sie das ernst?»
«Lassen Sie uns doch hier warten», wich der Priester aus.
Dazu hatte ich aber keine Lust. Ich erhob mich und begann, die Stufen zur Oberfläche emporzusteigen.
«Wo wollen Sie hin?»
Das fragte ich mich auch; denn eigentlich ging ich lediglich einer wüsten Totenwelt entgegen. Doch dann meinte ich entschlossen: «Ich sehe mir den Zerfall lieber an, als ihn zu denken.»

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