Waräger

Er nannte sich Arvid, aber sein richtiger Name war Prof. Dr. Heinrich Borschke. Er hatte an der zweitgrössten Universität des Landes promoviert, seine Habilitationsschrift über die Funktion der Waräger als Leibgarde der byzantinischen Kaiser hatte für Aufsehen in – wenn auch kleinen – Fachkreisen gesorgt. Die Freunde rieten ihm dazu, den nächsten Karriereschritt zu verfolgen und eine grosse Monografie über Byzanz zu schreiben. Das Professorentum war jedoch nicht das Einzige, wofür er sich interessierte. In seiner Freizeit unterhielt er unter dem erwähnten Pseudonym einen kleinen Online-Kanal, auf dem er Videos und Blogeinträge postete. Letztens hatte er viel Geld für ein hochwertiges Mikrofon und eine ebenso erstklassige Kamera ausgegeben. Trotzdem blieben seine Videos erfolglos: Mehr als zwanzig Zuschauer – fünf davon Abonnenten – erreichte er damit nicht. Und die Hälfte, mutmasste Borschke, waren Studierende, die etwas über die Inhalte seiner Vorlesung zu erfahren hofften. Sie wurden enttäuscht: Denn Borschkes Videos beinhalteten hauptsächlich Naturbeobachtungen, die er während seiner Spaziergänge machte. Einmal hatte er einen Fuchs vor die Linse bekommen, ein andermal eine Eichhörnchenfamilie. Aber eben, nichts davon schien die jungen Leute zu interessieren. So kam er, als er eines nachts im Bett lag, auf eine neue Idee, die er am nächsten Tag in die Tat umsetzte. Er kaufte sich in verschiedenen Online-Shops eine Wikinger-Ausrüstung zusammen, samt Axt und Helm. In voller Montur betrat er eine Woche darauf das Hauptgebäude der Universität, die Stahlwaffe in der einen, die Kamera in der anderen Hand. Die Treppenstufen hochschreitend, brüllend, filmte er sich selbst, und zog damit die Aufmerksamkeit der Studierenden auf sich, die an den Cafeteria-Tischen sassen und ihn amüsiert beglotzten. «Zum Rektor!», schrie er und hob die Axt. Borschke rechnete mit ein paar scheelen Blicken, doch da war sie, die unvorhergesehene Resonanz: Eine neugierige Meute versammelte sich hinter ihm, feuerte ihn an, als er die Treppen in den dritten Stock hocheilte. «Nieder mit ihm!», schrien sie und johlten. Durch Borschkes Adern strömte das Adrenalin, er fühlte sich so lebendig wie nie zuvor. So musste es den Warägern in der Schlacht ergangen sein. Bald stand er vor dem Büro des Rektors. Obwohl ihm das Treppensteigen einige Mühe bereitet hatte, gab er sich keine Blösse und umklammerte seine Waffe fester. «Los! Los!», schrien die Studierenden. «Hier kommt Arvid!», brüllte Borschke, hob die Axt und hieb auf die Tür ein. Sie zersplitterte zwar nicht in ihre Einzelteile, bebte aber merklich in ihren Angeln. Borschke fühlte sich mit jedem Schlag mächtiger. Ein Student hatte ihm die Kamera abgenommen und filmte die Aktion, sodass der Professor sich voll und ganz seiner Aufgabe widmen konnte. Wie es schien, war der Rektor gar nicht zugegen, doch das spielte keine Rolle. Nach einer Weile fand das ganze Spektakel leider ein unrühmliches Ende: Drei Polizisten, die jemand auf den Plan gerufen hatte, stürmten auf Borschke zu und warfen ihn nieder. Unter heftigen Protestschreien wurde er abgeführt, die Studierenden zerstreuten sich. Man merkte, dass sie lediglich seichte Ablenkung vom Uni-Alltag gesucht hatten. Bedauerlicherweise wurde auch nichts aus einem viralen Video – die Kamera und mit ihr die Aufnahme des versuchten Überfalls ging verloren und wurde nicht wieder gesehen.

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