Im Hochhaus

Das Hochhaus befindet sich noch im Bau. Dessen ungeachtet sind bereits die ersten Firmen eingezogen, aufstrebende Kleinunternehmen, die rasch expandieren. Die Beschäftigten müssen sich zwischen lose hängenden Kabeln und Kartonkisten zurechtfinden. Viele Stockwerke sind leer und werden lediglich von den Bauarbeitern besucht, die letzte Installationen vornehmen. Ich bin Teil einer Marketingfirma, die sich im obersten Stock eingenistet hat. Zwar ist die Sicht über die Stadt phänomenal, aber die Lüftung ist nicht richtig eingestellt und verursacht einen frostigen Luftzug. Hinzu kommt, dass ich kaum arbeiten kann, weil ein Teil der Infrastruktur fehlt. Aus Langweile habe ich damit begonnen, die unteren Stockwerke abzuklappern, indem ich mich als Elektriker ausgebe, was mir Einblick in die übrigen Büros des Hochhauses verschafft. Allzu Bemerkenswertes habe ich dabei nicht entdeckt: Den zweiten Stock besetzt eine Consulting-Agentur, im zehnten Stock residiert ein Architektenehepaar, im vierzehnten wirbt ein Team von Textern um Kunden. Zunächst habe ich mir einen Spass daraus gemacht, während vorgeblicher Lampeninstallationen in die Bildschirme der Angestellten zu starren. In der Arbeitszeit besuchen sie offenbar gerne Shoppingseiten oder spielen Browserspiele. Nach und nach kann ich den Gesichtern Namen zuordnen und ich treibe meine Scherze weiter: Hier und dort landet ein Post-It auf einem Pult, das diesen oder jenen Online-Shoppingtrip persönlich mit lakonischen Worten kommentiert. Allmählich fühlen sich die Leute beobachtet, zuerst wird getuschelt, dann finden Sitzungen und schliesslich ernste Mitarbeitergespräche statt. Als eine junge Praktikantin entlassen wird, bereue ich mein Tun und ich will die Dinge wieder geradebiegen; da ich mich aber nicht traue, vor allen Rechenschaft abzulegen, begehe ich den fatalen Fehler, weitere Post-Its mit erlogenen Botschaften zu streuen: «Die Texter sind schuld», oder: «Die Architekten wollen euch ans Leder». Die Folgen sind desaströs: Nicht nur gerät das ganze Hochhaus – einschliesslich meines Chefs – in Alarmbereitschaft; die Mittel, mit denen man die vermeintliche Gefahr bekämpft, werden rabiater und münden in gegenseitiger Sabotage. Das Architektenehepaar erhält plötzlich keine Aufträge mehr, die Texter verlieren ihre mühsam angeworbenen Neukunden und die Consulting-Agentur gar ihre gesamten Daten. Dank umsichtiger Defensivstrategie meines Chefs bleiben wir vorerst von Attacken verschont, bis ich eines Tages auf dem Weg zur Arbeit eine schwarze Rauchsäule über dem Hochhaus aufsteigen sehe.
Wir ziehen um.

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